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Teil 5

Ändern sich Systeme? - Ein Perspektivenwechsel

Ein Test am Tag danach. Wieder Talstation. 06:45 Uhr. Vertraute Gesichter, viele vom Vortag noch in Erinnerung, alle bereits wieder in Startposition. Einziger Unterschied: Ich stehe auf der sicheren anderen Seite des Zauns und habe heute keine Ambition auf eine Bergfahrt, war ich gestern doch schon unter den Siegern. Nun ist beobachten angesagt. Ich frage mich seit dem Vortag, was der Hintergrund dieses Kampfes ist, und habe dazu auch mit einigen Trainern gesprochen. Sie haben mir erklärt, dass es darum geht, eine, im besten Fall sogar zwei, zusätzliche Fahrten auf der morgens noch sehr harten Piste machen zu können. Denn das zählt am Weg zur Weltspitze. Harte Piste also, eine Fahrt mehr machen. Dafür dieser Kampf. Klingt plausibel, und trotzdem bin ich heute Beobachter.

Die Lage spitzt sich zu, 07:00 Uhr ist vorbei,07:10 Uhr ist nahe. Es kann jeden Moment losgehen. Die Masse ist schon formiert, denn diesmal hat wieder einmal jemand verfrüht zum Rucksack gegriffen. Alle haben ihre Gerätschaften in Händen. Punkt 07:10 Uhr ist es soweit. Das Schauspiel beginnt. Die Videokamera zeichnet alles auf, damit ich mir die Dynamik später noch mehrmals anschauen kann.

Um 07:15 Uhr ist die erste Spannung abgeflacht, die Sieger der Runde 1 sind schon in der Gondel bergwärts unterwegs. Die ersten Verlierer des Tages stehen noch unten, sie gehen es gemütlicher an, denn für sie gibt es heute nichts mehr zu gewinnen. Zumindest nicht am Weg nach oben. Für mich ist es an der Zeit meine Kamera einzupacken. Am Weg zurück zum Hotel begegnen mir weitere Teams, Trainer und Athleten, die ganz entspannt zur Liftstation gehen.

 

Gibt es mehrere Wege an die Spitze?

Diese entspannten Sportler, oft in Begleitung von Trainern, verwirren mich. Ich beginne mich zu fragen, welcher Philosophie diese Trainer wohl folgen. Offenbar kann das nicht die gleiche sein wie jene derjenigen Trainer, deren Athleten ich gerade gefilmt habe. Aber was denn dann?

Ich versuche es mit dem Gegenteil: Könnte es sein, dass man auch mit einer anderen Philosophie den Weg an die Spitze findet? Mit einer Fahrt weniger? Dafür mit längerem Schlaf, mit mehr Zeit für das Frühstück oder möglicherweise mit einem morgendlichen Mobilisierungsprogramm? Ich weiß nicht, was diese Sportler gemacht haben, aber es beschäftigt mich. Gibt es eine richtige und eine falsche Philosophie? Oder führen mehrere Wege zum Ziel?

Vielleicht hilft ein bisschen Zahlenspiel um wieder Klarheit zu finden: Ja, so ein Trainingscamp in Zermatt ist eine sehr kostspielige Sache. Nur auf einen anderen Kontinent fliegen wäre noch teurer. Da zählt natürlich jede Fahrt, die ein Athlet macht. Ich rechne mir das mal grob vor: Macht ein Athlet bei einem Aufenthalt von einer Woche täglich eine Fahrt mehr, so sind das 7 Fahrten zwischen den Toren. Das entspricht in etwa 210 – 280 Toren. Auf 7 Tage umgelegt ist fast ein Trainingstag, da aufgrund der Höhe selten mehr als 10 Fahrten zwischen den Toren gemacht werden können. Schafft ein Sportler sogar 2 zusätzliche Fahrten, würde die Rechnung nochmals anders aussehen. Das wären ja fast 2 Trainingstage mehr! Ich glaube, ich beginne die Philosophie der Sprinter zu verstehen.

Bedenkt man andererseits, dass viele der Teams, die zum Training eine Woche vor Ort sind, oft einen Ruhetag einlegen (müssen), weil sie vorher täglich jeweils 10 Fahrten gemacht haben, und die Athleten aufgrund der Höhenlage erschöpft sind, so hebt sich die Rechnung, zumindest was die gefahrenen Tore betrifft, allerdings wieder auf. Selbstverständlich darf man die Wetterbedingungen nicht außer Acht lassen, denn sie sind ebenfalls eine Größe, die die Anzahl der Trainingstage reduzieren kann. Also vielleicht doch möglichst viel fahren, solange das Wetter gut ist, und dann zuhause erholen?

Wo ist jedoch der Sinn, wenn Sportlern zuerst einen Tag Pause brauchen, um sich dann am Tag danach wieder voll ins übliche Gedränge zu stürzen? Das beschäftigt mich. So ganz klar scheint der Fall plötzlich doch nicht mehr zu sein, auch wenn bei einer ersten Betrachtung aus Gesichtspunkten der Effizienz verständlich ist, warum Trainer ihre Athleten anhalten, bereits um 06:30 Uhr an der Talstation zu sein.

Also versuche ich mir auf einem anderen Weg eine stabile Erklärung zu basteln: Für manch einen Sportler ist das morgendliche Gedränge die notwendige Aufregung, sind die Sprints zu den Gondeln jene notwendige Stimulanz, die er braucht, um wach für den Kampf mit den Torstangen zu werden. Auf der anderen Seite sehe ich die Athleten, die möglicherweise nicht so sehr auf Brutalität, Aufregung und Konflikt aus sind. Für sie ist das frühmorgendliche Gemetzel möglicherweise wenig förderlich. Für wohl alle Athleten dürfte jedoch gelten, dass sie die Zeit, die sie 40 bis 50 Minuten meist stehend warten, nutzen könnten. Etwa in dem sie stretchen und mobilisieren. Denn mit aufgesatteltem schwerem Rucksack mitunter 20 Minuten zu stehen, und darauf zu achten nicht umzufallen, fördert die Lockerheit der Muskeln eher nicht.

Ich merke, dass ich keine klare Antwort finde. Vielleicht hilft der Zugang über den Zeitaspekt. Also überlege ich, dass ja erst August ist, und bis zum ersten Rennen noch viele Trainingstage folgen werden. Trainingstage in anderen Gebieten, in Gebieten, in denen die Sportler sehr viel einfacher zum Trainingshang kommen. Macht es deshalb Sinn, hier einen derartigen Kampf in Kauf zu nehmen, der letztendlich auch die Gefahr einer Verletzung mit sich bringt? Ist das wirklich der einzige Weg der zum – ihnen allen gleichen – Ziel, nämlich einem Sieg in einem Weltcuprennen oder gar einem Titel als Weltmeister oder Olympiasieger führt? Ist das die Härte, die es am Weg zur Spitze braucht?

Was mich besonders beeindruckt hat ist, dass es offenbar keinen Lerneffekt in der Menge gibt. So wird die Kettenreaktion des Rucksack-Schulterns tägliche viele Minuten vor 07:10 Uhr ausgelöst. Fast alle kennen die Folgen, und trotzdem machen alle immer wieder sofort mit. Obwohl es viele Sportler benennen können, erfolgt kein kollektives Lernen aus den Erfahrungen des Vortags. Warum nicht? Sind das die Sportler, die den Weg an die Spitze schaffen werden, wenn sie so grundlegendes Verhalten nicht reflektieren und dann andere Verhaltensweisen zeigen können?

Denken wir das noch ein bisschen weiter: Was wäre, wenn der Liftbetreiber steuernd eingreifen würde? Sollte er das überhaupt tun? Ist das seine Aufgabe sein sollte, nur weil die Selbstorganisation der Athleten hier offenbar nicht zu mehr Struktur führt? Etwas provokant formuliert könnte man vielmehr sagen, dass der Liftbetreiber dem System Spitzensport hier täglich einen Spiegel vor die Nase hält – und niemand bemerkt es. Der Spiegel wäre da und könnte den Sportlern einen Anlass zur Reflektion bieten. Das könnte eine persönliche Entwicklung auslösen. Passiert das?

Es gäbe noch viele Fragen und Hypothesen zu diesem täglichen Schauspiel. Ein Aspekt bleibt für mich jedoch im Vordergrund: Ist dieser Kampf einfach eine Tradition, welche die Trainer in ihrer Zeit als Sportler schon so erlebt haben, und die sie ohne Hinterfragung aufrechterhalten? So wie Burschenschaften ihre Rituale haben, so haben Schifahrer halt ihre? Statt Schmiss vom Säbel eine Schramme von der Stahlkante des Gegners? Oder ist dieses Prozedere nichts anderes als eine notwendige Hürde, die man am Weg nach oben einfach überwinden muss? Ist das jene Härte, die man lernen muss, um es zu schaffen?

Für meinen nächsten Besuch in Zermatt habe ich mir vorgenommen herauszufinden, welcher Philosophie jene Trainer, die ihre Läufer erst um 07:15 Uhr zum Lift schicken, und ihnen damit die ganze Hektik ersparen, folgen. Ob diese Athleten die zukünftigen Verlierer oder gar die Gewinner sein werden?